Vor über 200 Jahren ereignete sich in der Zentralschweiz eine Naturkatastrophe von bisher ungekanntem Ausmass. Die Spuren des Bergsturzes von Goldau sind bis heute in der Landschaft sichtbar.
In vier Minuten donnerten rund 40 Millionen Kubikmeter Gestein in den Talkessel von Arth und Goldau und erdrückten 457 Menschen.
Der Bergsturz von Goldau war unausweichlich, sagen Geologen mit den Erkenntnissen von heute. Bei der letzten grossen Alpenauffaltung vor elf Millionen Jahren wurden am Rossberg Nagelfluh-, Mergel- und Sandsteinschichten mit einer Sturzneigung von 12 bis 30 Grad aufgeworfen. Während Tausenden von Jahren drang Wasser in Spalten und Klüfte. In den regenreichen Jahren vor dem fatalen Bergsturz von Goldau im Jahre 1806 berichteten Chronisten über grosse Spalten und Risse am Rossberg. Hirten und Holzfäller vermochten sie nur mit Stegen zu überqueren.
Dank der Aufzeichnungen des Arther Talarztes Karl Zay ist die Geschichte des Bergsturzes gut dokumentiert. Die Risse am Berg wurden Jahre vor der Katastrophe bemerkt, aber nicht als Zeichen der Bedrohung erkannt.
Vier Minuten veränderten eine Landschaft für immer
Am Morgen des 2. September 1806 setzte der tagelange Regen aus. Der Rossberg geriet in Bewegung, Tannenwurzeln rissen sich los, die Bäume schwankten an den Hängen, später schoben sich Grasflächen übereinander, Steinmassen donnerten ins Tal und zerschmetterten die ersten Häuser und Ställe. Noch immer glaubten die Bewohner des Talkessels an die Gutartigkeit des knurrenden Berges und brachten sich nicht in Sicherheit. Um 17 Uhr brach die Tragödie los. «Getöse, Krachen und Geprassel erfüllt die Luft wie tief brüllender Donner, erschüttert jedes lebende Ohr und Herz und tönt im Widerhall von tausend Bergklüften», notierte der Talarzt Karl Zay in seinem «Schuttbuch».
In wenigen Minuten rasten 40 Millionen Kubikmeter Nagelfluh ins Tal, begruben drei Dörfer (Goldau, Röthen, Buosingen) unter einer bis zu 50 Meter tiefen Schuttschicht und lösten im Lauerzersee eine 20 Meter hohe Sturzwelle aus.
Fliehen unmöglich
Die Menschen hatten keine Möglichkeit mehr zu fliehen. Beim Schlipfsturz am Rossberg traten ähnliche physikalische Kräfte auf, wie sie bei einem Schneebrett zu beobachten sind. Die Felsmassen rasten in hohem Tempo ins Tal, so dass bis heute am Gegenhang des Rossbergs, an der Rigi, einzelne Felsbrocken des Berges sichtbar sind. Der Goldauer Bergsturz gilt als grösster historischer Felsschlipf der Schweiz. 457 Menschen kamen ums Leben. Nur 14 Personen konnten lebend geborgen werden. 200 Menschen entgingen der Katastrophe, weil sie sich zum Zeitpunkt des Bergsturzes nicht im Talkessel aufhielten. Die niederstürzende Nagelfluh zerstörte 111 Wohnhäuser, 2 Kirchen, 220 Scheunen und Ställe und tötete 323 Stück Vieh. Die abgestürzten Felsmassen entsprachen einem Würfel von 350 Meter Kantenlänge.
Der Goldauer Bergsturz löste in der ganzen Schweiz und zum Teil auch im Ausland (Holland, Bayern, Österreich) eine beispiellose Welle der Solidarität aus. Durch Sammelaktionen kamen 165’000 Franken zusammen, die heute einem Wert von 38 Mio. Franken entsprechen. Vier Jahre nach dem Bergsturz stand das erste Gebäude, das Pfrundhaus, in Neu-Goldau.
Der Bergsturz von Goldau gilt als das erste, grosse geologische Ereignis, das im Zeitalter der Aufklärung und der sich rasant entwickelnden Naturwissenschaften von den Überlebenden nicht als «Bestrafung Gottes» hingenommen wurde. Der Bergsturz von Goldau hatte damals in ganz Europa Aufsehen erregt und hat in der Folge Eingang in die Literatur, Musik und Malerei gefunden.
Der Rossberg bleibt in Bewegung
Der Rossberg ist auch 200 Jahre nach dem historischen Felssturz noch immer instabil. Der letzte Absturz ereignete sich im Jahr 2005, als rund 100’000 Kubikmeter Gestein niedergingen. Vom Schlipfsturz war auch der Natur- und Tierpark Goldau betroffen. Schlamm und Geröll des Schuttbaches überfluteten das Erweiterungsgebiet des Parks. Experten gehen davon aus, dass es am Rossberg früher oder später wieder zu einem Bergsturz kommen wird. Im Unterschied zu den Ereignissen vor zweihundert Jahren wird der Rossberg heute überwacht, vermessen und mit Gefahrenkarten dokumentiert.
Erwin Dettling in Lauerz, Schwyz, 2006
Der Rossberg ist berühmt wegen des Goldauer Bergsturzes (1806)